Mit hoher Wahrscheinlichkeit: Ja! Aber in welchem Ausmaß? Und ist vielleicht noch eine Übergangsfrist mit drin?
In diesem Artikel werde ich das neue Gesetz zusammenfassen und hilfreiche Tools und Webseiten verlinken, die Ihnen dabei helfen können, Ihre Situation in der Gesetzeslage einzuordnen.
Kurzer Kontext: Warum das Gesetz?
Das Gesetz wurde am 16. Juli 2021 erlassen und heißt mit vollem Namen sogar noch unhandlicher "Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze".
Das Gesetz dient der Umsetzung des European Accessibility Acts. Ziel ist es, Produkte und Dienstleistungen für alle Personen fair und ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar zu machen. Dabei einzubeziehen sind assistive Technologien. Dazu aber später mehr.
Wichtig: Durch den Namen selbst wird schon verdeutlicht, dass keine komplette Barrierefreiheit gewährleistet werden kann:
„Ursprünglich sollte der Gesetzesname Barrierefreiheitsgesetz lauten. Da absolute Barrierefreiheit aber praktisch nicht erreichbar sein wird, hat man sich für Barrierefreiheitsstärkungsgesetz entschieden."
Im Gesetz wird ferner auch auf Richtlinien verwiesen, die teilweise nicht sehr konkret sind. Auch das dient dem Hinweis, dass die Umsetzung einer barrierearmen Webanwendung immer kontextabhängig ist und nach bestem Wissen und Gewissen geplant und implementiert werden kann. Körperliche und kontextbedingte Barrieren sind vielfältig und komplex und man kann nicht jeder Situation gerecht werden. Die benannten Richtlinien geben daher allgemeine Hinweise und Erklärungen vor.
Bis zum 28. Juni 2025 sind die Regelungen zum Gesetz umzusetzen. Ausnahmen und Übergangsfristen können einzeln von den Ländern beschlossen werden. Ohne geltende Ausnahme müssen alle betroffenen Produkte und Dienstleistungen, die ab dem Zeitpunkt vertrieben oder erbracht werden, den Gesetzen entsprechen.
Welche Produkte und Dienstleistungen sind betroffen?
Betroffen sind Produkte mit digitaler Bedienung und Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr.
Das sind u.a.
Produkte wie Computer, Smartphones, E-Book-Lesegeräte
Dienstleistungen wie E-Books, Messenger-Dienste, Personenbeförderungsdienste, elektronische Tickets
Was sind Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr?
Das betrifft Dienstleistungen und Waren, die über das Internet verkauft und erworben werden. Die Auslieferung und Erbringung muss nicht zwingend online erfolgen. Entscheidend ist lediglich der Vertragsschluss, also Buchung bzw. Kauf. Falls online nur eine Anfrage zur Dienstleistung oder dem Produkt erfolgt, so fällt der Use Case nicht mehr unter das Gesetz.
Beispiele für betroffene Dienstleistungen:
Online-Shops
Hotelbuchungen
verbindliche Terminbuchungen
Ebenfalls ausdrücklich inbegriffen sind:
Banken, Online-Banking, Bankdienstleistungen
Personenbeförderungsdienste (Luft-, Bus-, Schienen- & Schiffsverkehr, ausgenommen: Regionalverkehr)
Telekommunikationsdienste
Welche Unternehmen betrifft das Gesetz nicht?
Kleinstunternehmen (solche mit <10 Mitarbeitenden und einem maximalen Jahresumsatz von 2 Mio. €) sind von den allgemeinen Anforderungen für Dienstleistungen ausgeschlossen, nicht aber von den Anforderungen für Produkte. Die Anforderungen für die Dienstleistungen werden bei Kleinstunternehmen aber realitätsnah angepasst (§ 3 Abs. 3 S. 1 BFSG).
Private Angebote unterliegen nicht dem Gesetz.
Rein geschäftliche B2B-Angebote sind ebenfalls ausgenommen. Es muss dabei aber klar ersichtlich sein, dass es sich um einen Shop handelt, der nicht an Verbraucher verkauft.
Gibt es weitere Ausnahmen?
Für andere Unternehmen sind mögliche Ausnahmen unter §§ 16, 17 BFSG festgehalten:
"Die Barrierefreiheitsanforderungen der nach § 3 Absatz 2 zu erlassenden Rechtsverordnung gelten nur insoweit, als deren Einhaltung keine wesentliche Änderung eines Produkts oder einer Dienstleistung erfordert, die zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung führt."
Das bedeutet: Wenn es ein Feature gibt oder sogar die gesamte Software nach einem Prozess abläuft, welches eine barrierearme Anpassung generell nicht hergibt, dann kann eine Ausnahme gültig werden. In manchen Fällen geht das Ergebnis nach einer technischen Analyse hervor, in einigen Fällen ist es durch die Art der Aufgabenabarbeitung leicht erschließbar.
Dabei ist zu unterscheiden, ob eine Anpassung des Produktes zugunsten der Barrierefreiheit gar nicht möglich ist oder nur unter stark erhöhtem Ressourcenaufwand: Anlage 4 weist auf Ausnahmefälle für unzumutbare Härte hin, in denen die Umsetzung wirtschaftlich unverhältnismäßig wäre. Das gilt für einmalige Organisationskosten, z.B.
zusätzliches Fachpersonal im Bereich Barrierefreiheit
die Ausbildung von Mitarbeitenden und
die Planung neuer Entwicklungsprozesse,
sowie laufende Kosten, z.B.
die Planung von Barrierefreiheitsfunktionen,
die Planung von Produktionsprozessen und
die Produktprüfung.
Weiterhin wird eine Verhältnismäßigkeit von Kosten zu Nutzungshäufigkeiten von Menschen mit Behinderung erschlossen.
Ebenfalls ausgenommen sind zeitbasierte Medien (z.B. Audio- & Videodateien), wenn die Webseite und ihre Inhalte als Archiv dienen und Inhalte nach dem 28. Juni 2025 nicht mehr überarbeitet oder aktualisiert werden. Das betrifft dann aber nicht nur bestimmte Bereiche, sondern die gesamte Webseite.
Sogenannte „Dienstleistungen unter dem Einsatz von Produkten” werden ebenfalls als Ausnahme unterschieden. Betroffen sind z.B. Reparaturdienstleistungen. Diese dürfen auch bis 27. Juni 2030 unverändert (!) angeboten werden. Bei Selbstbedienungsterminals gibt es ebenfalls Übergangsfristen. Diese gelten bis zum Ende ihrer wirtschaftlichen Nutzungsdauer, maximal aber bis 2040.
Online-Shops & Webseiten fallen nicht unter diese Ausnahme!
💡 Hilfreich:
Es gibt einen kostenlosen BFSG Check online, mit dem Sie prüfen können, ob Sie betroffen sind.
Die Fußnoten verweisen auf die jeweiligen Gesetzesstellen und geben weitere Hinweise. Wegen der vereinfachten Sprache und Zusammenfassung ist es natürlich nicht rechtlich verbindlich, gibt aber eine sehr gute erste Einordnung.
Welche Richtlinien sind umzusetzen?
Ein wichtiger Satz in der Einleitung des Gesetzes: „Das BFSG macht damit die Einhaltung der WCAG mit den Stufen A + AA zur Pflicht.”
Das WCAG sind die Web Content Accessibility Guidelines. Diese Guidelines entsprechen internationalen Standards und wurden von internationalen Experten und Organisationen erstellt. Das Ziel ist barrierefreie Gestaltung von Angeboten im Internet. Unterthemen der Richtlinien sind Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Die Richtlinien sind ausführlich und gegliedert beschrieben und öffentlich zugreifbar.
Die Ausführlichkeit bezieht sich auf die Erklärung der Nutzungskontexte, demnach dem Faktor Mensch und nur teilweise auf technische Lösungswege. Die Richtlinien setzen einen starken Fokus auf die Sensibilisierung möglicher Barrieren für Menschen, die die Anwendungen nutzen. Dadurch können Sie im individuellen Kontext selbst erfassen, inwieweit Sie Ihr Produkt barrierearm optimieren können, sodass es im Kontext Sinn macht. So soll laut dem European Accessibility Act weiterhin Raum für Innovation und Flexibilität gegeben sein.
Die umzusetzende barrierearme Gestaltung betrifft laut BFSG die gesamte Webseite, inkl. u.a. Cookie Bannern und eingesetzten Elementen über Plugins.
Abschließend: Welche Konsequenzen entstehen bei Nichteinhaltung?
Ein Melde- und Monitoring-System für die Einhaltung ist vorgesehen. Der Ablauf sieht dann vor, dass eine Beschwerde eingereicht werden kann, die Beschwerde geprüft wird und abschließend Zeit für eine Korrekturmaßnahme durch das zuständige Unternehmen gegeben wird. Wird das Gesetz weiterhin nicht eingehalten, kann neben einer Geldstrafe auch die Abschaltung der Webseite sein. Die Geldstrafe durch Ordnungswidrigkeit kann in einigen Fällen bei bis zu 10.000€ liegen, in anderen Fällen bei bis zu 100.000€.
Hinweis: Das BFSG stellt mit dem Gesetz eine Marktverhaltensregel auf. Verstöße sind damit wettbewerbswidrig und können auch durch Mitbewerber kostenpflichtig abgemahnt werden. Ebenfalls Verbände & Einrichtungen, die nach dem Behindertengleichstellungsgesetz anerkannt sind, stehen das Recht zu.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit dem Artikel eine erste Einordnung des neuen Gesetzes geben. Die Zusammenfassung stammt aus meiner Recherche aus Developer-Sicht und dient weder als rechtliche Beratung, noch ist der Text in seiner Formulierung als rechtlich bindend anzusehen.
Hilfreiche Quellen für Ihre weitere Recherche sind folgende:
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Das kostenlose BFSG Check Tool: Ist mein Produkt betroffen?
Die wichtigsten Informationen zum European Accessibility Act
Verpflichtungen des Händlers, denn nicht nur die Produzenten selbst stehen in der Verantwortung für mehr Barrierefreiheit.
Sie wollen Tipps für barrierearme UIs?
In einem weiteren Blogartikel erkäre ich, wie man eine Webanwendung für mototrische Einschränkungen optimieren kann.